Der Humorist Robert Linderer
Juergen Gottschalk
Robert Linderer wurde am 25.11.1824 in Erfurt geboren – sein Vater Calman Jacob
Linderer, Träger der „Goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaft“, war als
preußischer Hof-Zahnarzt bekannt unter dem Namen „Zahnschmerz-Linderer“. Da er
sich den Namen Linderer in Zusammenhang mit der gesetzlich angeordneten
Namensannahme von Juden und in Anbetracht seines Berufes selbst ausgesucht
hatte, scheint sich sein Sinn für Humor auch auf den Sohn übertragen zu haben.
Robert Linderer war Miteigentümer der Frankeschen Theateragentur, Herausgeber
der „Neuen Schaubühne“, Possendichter („Die Droschkenkutscher von Berlin“) und
als national gesinnter Preuße Autor des deutschen Flaggenliedes, „unter dessen
Gesang so manches deutsche Schiff auf See unterging und das pikanterweise zum
Liedgut der NSDAP zählte“/1/. Mit Recht wies der Schriftsteller Heinz Knobloch
darauf hin, das dieses Lied aus Linderers 1883 erschienenen Singspiel „Unsere
Marine“ „in einer weder vom Dichter noch vom Komponisten Eugen Felix R i c h a r
d Thiele vorauszuahnenden Weise in beiden Weltkriegen benutzt wurde“ /2/.
Nachdem Kaiser Wilhelm II. 1888 verkündete: „Unsere Zukunft liegt auf dem
Wasser“ passte die Flaggenlied-Zeile „Stolz weht die Fahne schwarz-weiß-rot auf
unsres Schiffes Mast“ in das Konzept.
Aber bevor wir den Gedanken um das Flaggenlied weiterspinnen, zurück zu dem
Humoristen Linderer. Bisher weltweit nur in einem Exemplar in öffentlichem
Besitz nachweisbar ist sein 1848 erschienenes frühes Werk „Brennesseln“ in der
Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena vorhanden.
In diesem Bändchen hat Robert Linderer ein Lied (Couplet) nach der Melodie
„Menschen und Uhren“ von A. Müller unter dem Titel: „I bin halt a Pechvogel“
verfasst, welches in einer Strophe einen deutlichen humoristischen Seitenhieb
auf den ordenssüchtigen Berliner abgibt:
„I bin halt a Pechvogel“
„Einen Orden zu tragen hab’ ich längst schon begehrt,
Jüngst hat mir der Himmel meinen Wunsch auch gewährt,
Ich geh’ unter die Linden, nun rathet (sic!) was ich seh’?
Da liegt eine silberne Medaille im Schnee!
Ich häng’ sie in’s Knopfloch ganz stolz und verwegen,
Da schrei’n mir die Leute mit Lachen entgegen:
‚S ist ‚ne Stralauer Fischzugs-Medaille von Zinn!
O schrecklich, dass ich so ein Pechvogel bin! /3/
Weitere ordenskundliche Spötteleien konnten bei Linderer bisher nicht
nachgewiesen werden.
Eine ausführlichere Betrachtung seines national gesinnten Flaggenliedes und
dessen Rezeption bis in die heutige Zeit soll jedoch dem militärgeschichtlich
und kulturgeschichtlich interessierten Leser nachdenkenswertes zum Umgang mit
Dichtern, speziell wenn es denn jüdisch-deutsche Dichter sind, an die Hand
geben.
Bodo Herzog nahm das Flaggenlied des jüdisch-christlichen Freundespaares
Linderer/Thiele zum Anlaß, 1996 einen gut recherchierten und ausführlichen
Artikel zum Thema jüdische Soldaten und Offiziere speziell bei der Marine zu
verfassen /4/. Mit beunruhigenden Ergebnissen. Zwar hatte Franz Josef Strauß in
seiner Amtszeit als Bundesverteidigungsminister 1961 die Neuausgabe der vom
„Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten“ herausgegebenen „Kriegsbriefe gefallener
deutscher Juden“ (Erstausgabe: Berlin: Vortrupp-Verlag 1935. Mit einer Zeichnung
von Max Liebermann) befördert, aber wie vieles wurde und ist auch dies
vergessen. Vergessen wohl auch: der einzige Marine-Offizier jüdischen Glaubens,
der Marine-Arzt Dr. Karl Weiskopf (geb.1888) fiel gemeinsam mit Gorch Fock in
der Skagerrak-Schlacht im Mai 1916.
Herzog beklagt, dass seine 1996 gegebenen Hinweise auf das Flaggenlied-Jubiläum
an das „Hamburger Abendblatt“ sowie an die „Märkische Oderzeitung“ unbeantwortet
blieben .Keinerlei Reaktion auch von der Marine-Offizier-Vereinigung (MOV) und
der Marine-Offizier-Hilfe (MOH) und ihren Veröffentlichungsorganen „Marineforum“
und „MOV-MOH-DMI-Nachrichten, vom Deutschen Marinebund (DMB) und seinen
Publikationsreihen „Blaue Jungs“ und „Leinen los!“.
Wenigstens hat der Deutsche Marinebund das Flaggenlied noch in seinem 1954
erschienenen Liederbuch „Unsere Lieder“ aufgenommen (Anm. d. Verf.).
Die Legendenbildung begann 1896 mit dem Untergang des Kanonenbootes „Iltis“. Der
„Kladderadatsch“ hat sich im selben Jahr mit seinem Gedicht „Ein Trost im
Unglück“ darauf bezogen (Abdruck bei Bodo Herzog).
Aber wer hat nicht alles das Flaggenlied in seinen Liederbüchern aufgeführt.
Eine bunt schillernde Mischung tritt uns entgegen:
Wandervogel, Königin-Luise-Bund, Stahlhelm, Wehrmacht, NSDAP, SA,
Kyffhäuser-Bund, Gardevereine, Armeekorps, ja selbst in Schulbüchern war es zu
finden.
Ein deutscher Jude, national gesinnt, wird nach seinem Tod zum
identitätsstiftenden Liedautoren für die deutsche Marine. Wie konnte das
funktionieren? Nun, der Name des Verfassers wurde gegebenenfalls weggelassen,
erprobt schon bei Heinrich Heines „Loreley“, oder es wurde nur der Name des
Komponisten Friedrich Silcher genannt und H. Heines Name weggelassen. Beliebt
war auch die Bezeichnung „Volkslied“ für die „Loreley“.
Robert Linderers Grab befindet sich auf dem größten jüdischen Friedhof Europas
in Berlin-Weißensee. Er starb in Berlin am 16.12.1886. An seinem marmornen
Grabdenkmal befindet sich eine von der Jüdischen Gemeinde Berlins gestiftete
Widmung:
„Hier ruht der Dichter des Flaggenliedes,
mit dem die deutschen Matrosen für den Sieg und Ruhm des Vaterlandes kämpften
und starben“.
Linderers Freund, der Komponist Richard Thiele, geb. am 29.10.1847, starb am
25.3.1903 im selben Haus (Auguststraße 45, Ecke Rosenthaler Straße), in dem der
Dichter das Lied ersann, welches für Jahrzehnte die heimliche (Marine-)Nationalhymne
wurde und sogar als offizieller Armee-Marsch (Nr. II/145) eingeführt wurde.
Ein Porträt von Richard Thiele und die Abbildung des Grabmals von Robert
Linderer finden sich in dem Aufsatz von Bodo Herzog.
Ein mögliches Fazit:
Des Heiteren wird partiell gedacht,
mit dem Ernsten Politik gemacht.
Anmerkungen
(1)
http://www.erfurt-web.de/LindererRobert.
Stand v. 5.2.2008.
(2) Knobloch, Heinz: Vorwort. In: Berliner Stadtklatsch: heitere Lebensbilder
aus d. Berliner Gegenwart 1858-1866. Reprint H. 1-25. Berlin 1858-1866. Berlin:
arani-Verlag 1984. S. XV.
(3) Linderer, Robert: Brennesseln. Sammlung humoristisch-satyrischer
Declamatorien. Berlin: Carl Lindow o. J. (1848). S. 80-82.
(4) Herzog, Bodo: Erinnerungen an den jüdischen Textdichter Robert Linderer, der
vor 110 Jahren starb. In: Militaria. Bd. 19. 1996. Norderstedt: Patzwall 1996.
S. 156-163. – mit Text- und Melodieabdruck des Flaggenliedes.